Abzug aus Afghanistan: So traurig

Seit dem 15.08.2021 stehe ich unter Schock: Die Finsternis ist zurück in Afghanistan. Keine 20 Jahre ist es her, nicht mal eine ganze Generation, und jetzt sind sie zurück: Die menschenverachtenden – und besonders frauenverachtenden – Taliban. Der Abzug der westlichen Truppen aus Afghanistan hat ihnen den Weg frei gemacht.

Nine-Eleven

Alle, die es bewusst erlebt haben, können sich wohl noch gut erinnern: an Nine-Eleven und wo sie damals waren, als sie es erfahren haben. Ich beispielsweise saß in meinem Büro an der Universität (ja, damals noch Universität) Karlsruhe – und habe es trotz Internetanbindung nicht sofort mitbekommen. Erst als mein Vater mich anrief, damals frisch Pensionär mit Zeit zum Fernsehen am Nachmittag gegen 15:00 Uhr, und mir sagte, da sei etwas in New York passiert, konsultierte ich den Browser. Zwar erschien mir völlig unglaubhaft, was er da erzählte, aber ein Anruf von ihm bei mir im Büro war eine derartige Seltenheit, dass klar war, da musste etwas dran sein.

Ich plante für den Abend die Teilnahme an einem Junggesellinnenabschied in Heilbronn und machte mich wenige Stunden später auf den Weg dahin. Bis dahin hatte ich noch zu tun, d.h. der Einsturz der Türme wurde mir erst durch das Autoradio mitgeteilt, das ich natürlich wie bei jeder Autofahrt an hatte (schon allein der Staumeldungen wegen). Ich kann mich noch sehr gut an den Schock erinnern, als mir klar wurde, was man da berichtete. Ich hielt gefühlt die ganze Fahrt die Luft an.

Bilder vom Kollaps der Türme hatte ich bis dahin nicht gesehen. Vor dem geistigen Auge hatte ich nur die ersten Bilder, die ich mit dem Browser abgerufen hatte: das erste Flugzeug, das in den Nordturm „gestürzt“ ist. Es würde auch noch bis spät in die Nacht dauern, bis ich Bilder zu sehen bekam, denn in Heilbronn angekommen, war es erst einmal kein Thema mehr. Schließlich wollte niemand der angehenden Braut den Spaß verderben. Auf der Rückfahrt mitten in der Nacht nahm ich zwangsläufig den Faden mit der Berichterstattung im Autoradio wieder auf. Endlich zuhause machte ich den Fernseher an und sah die Bilder und Filmaufnahmen.

Afghanistan

Mit diesem Tag, wenn auch erst mit dem Zeitversatz von einem zusätzlichen Monat, wurde Afghanistan in mein Bewusstsein gespült. Ich lernte das ein oder andere über dieses Land, über seine Vergangenheit, die Kriege und dass dort das Böse sitzt. Dass es al-Quaida gab, dass es Taliban gab, die ich zu dem Zeitpunkt für mehr oder weniger dieselben finsteren Gestalten hielt. Mir haften noch heute die Berichte der Grausamkeiten an, die die Taliban verübt haben: Öffentlichen Hinrichtungen in Stadien, Auspeitschungen und Demütigung von Frauen, ihre Vollverschleierung. Alles untermauert durch heimliche Kameraaufnahmen, die an die breitere Öffentlichkeit und außer Landes gelangten. Die Vollstrecker glaubten sich im Recht, aus ihrer Sicht lief alles nach dem Recht der Scharia, des Islam, des Koran.

Nichts, was derartig menschenverachtend ist, kann jemals Recht sein

Christen mussten das bereits im Mittelalter schmerzhaft lernen: Hexenverbrennung und Inquisition als Unrechtssprechung auf Basis von Denuntiation, Neid, Missgunst. Zu viele Verbrechen im Namen von Religionen. Wie gern hatte ich meinen weisen Nathan in der Schule gelesen, mein ultimatives Lieblingsstück Literatur während des gesamten Deutschunterrichts meiner schulischen Laufbahn. Auch die Einsichtsfähigkeit des Saladin hatte mich damals ausreichend beeindruckt, so dass ich den Islam für eine lehreinsichtige Religion hielt, die das Zusammenleben der Menschen zu verbessern suchte. Wie andere Religionen auch, dachte ich. Wie naiv ich war.

Nichts davon stimmt. So viel Gewalt und Machtmissbrauch wurde im Namen von Religionen verübt. Gerade an Frauen.

Und jetzt sind sie zurück: die Taliban. Die Frauenverachter. Die Gewalttäter. Das Mittelalter des Islam.

Mission in Afghanistan

Die Mission in Afghanistan, in die die USA Deutschland gezogen haben: Irgendwie wollte ich einfach die letzten knapp 20 Jahre glauben, dass wenigstens Deutschland in Afghanistan den Unterschied macht. Dass wenigstens etwas erreicht werden kann, dass ein Konzept da ist, was man den Leuten vorleben will. Ein Konzept von Freiheit, Menschenrechten, Geschwisterlichkeit, das dauerhaft etabliert werden kann. Es wurde innerhalb weniger Tage hinweg gefegt und seit 15.08.2021 ist in Afghanistan die Steinzeit zurück. Sicher, vermutlich waren alle Bemühungen schon auf Grund der letzten 20 korrupten Jahre zum Hinweggefegtwerden verdammt. Aber nun ist jeder Funke erloschen. Was wird aus den Frauen? Was aus den Mädchen?

Ich weine still. Sprachlos. Ohnmächtig.

Abzug aus Afghanistan

Ohnmacht auch gegenüber der Erkenntnis, dass Deutschland nicht den Unterschied macht. Im Gegenteil. Die Nation ist selbstverliebt, mit sich selbst beschäftigt, unfassbar gut darin, sich etwas vorzumachen, was die eigenen ethischen Grundsätze angeht.

  • Dass sich während der Flutkatastrophe vor 5 Wochen niemand um die Evakuierung deutscher Staatsbürger, Doppelstaatler und vor allem Ortskräften gekümmert hat – geschenkt.
  • Dass ein kriegsunerfahrener Außenminister es nicht hat kommen sehen – geschenkt.
  • Dass sich eine auf halbwegs ethisch gefestigten Füßen stehende Verteidigungsministerin wider besseren Wissens nicht gegenüber dem Rest der Regierung hat Gehör verschaffen und sich durchsetzen können – geschenkt.
  • Dass sich das Parlament unserer Parlamentsarmee 20 Jahre lang den Einsatz entgegen bekannter Nachrichtenlage schön geredet und ihm zugestimmt hat – geschenkt.
  • Dass ein immer gern brachial tönender, grundsätzlich opportunistischer und im Angesicht einer drohenden Bundestagswahl umso intensiver nach rechts schielender Innenminister praktisch noch etwa eine Woche vor der Machtübernahme der Taliban in das ausreichend sichere Afghanistan abschieben wollte – geschenkt.
  • Dass mit der Machtübernahme der Taliban zuallererst mehrere Christdemokraten (und nicht die Rechten von AfD und Konsorten) eine Flüchtlingswelle antizipieren und den Ruf ausstoßen „2015 darf sich nicht wiederholen“, obwohl noch kein Flüchtling da ist, sondern die geplante Evakuierung Deutsche und sog. Ortskräfte im Visier hat, die mitnichten allein reisende, testosterongesteuerte junge Männer, und wie man damit gerne suggerieren will, potentielle Straftäter sind, sondern vergleichsweise gut ausgebildete, der Deutschen Sprache sogar ausgesprochen mächtige Familien mit Frauen und Kindern sind – geschenkt.
  • Dass die Bundeskanzlerin, mehr Pragmatikerin als Visionärin, einen geerbten Krieg, den sie vermutlich nie wollte, nicht beendet, sondern erfolgreich verdrängt hat, zumal in ihrer letzten, so sehr krisengeschüttelten Legislaturperiode, bei der sie sicher tausendfach bereut hat, sich noch einmal zur Wahl gestellt zu haben – geschenkt.
  • Dass die Bundeswehr trotz eines tollen Evakuierungseinsatzes allen Peinlichkeiten dann doch noch eine i-Punkt verpasst und noch vor Frankreich abzieht – geschenkt.

Doch der Abzug aus Afghanistan, zumal so überstürzt, unzureichend und unvollendet, hat uns aus unseren schönen Illusionen heraus katapultiert. Wir, wir ganz persönlich, jeder einzelne von uns, haben sie im Stich gelassen: die afghanischen Frauen, die Mädchen, die Kinder, eine junge Generation, Ortskräfte, die für unsere Soldaten bereit waren, im Alltag ihr Leben zu geben. Wir haben versprochen, und nichts gehalten. Wir haben uns hinter unserer Bürokratie versteckt, denn die kennen wir gut, da sind wir daheim, wir sind ja Deutsche, wir haben die erfunden. Wir haben die bürokratischen Anforderungen noch einmal verschärft, haben Regeln und Prozeduren erfunden, nur um nicht verantwortlich zu sein, nur um keine Entscheidung treffen zu müssen. Wir alle.

Wir sind wie wir immer waren: Bürokraten. Nur so konnte der Holocaust stattfinden, nur so kann man sich so elegant aus der Verantwortung stehlen. Und so stehlen wir uns seit Jahr und Tag aus der Verantwortung. Jetzt werden Menschen darunter zu leiden haben und wir werden nichts mehr tun können.

Ich weine fassungslos.

Zeit der Desillusionierung

Es ist an der Zeit, Verantwortung zu übernehmen! 
Es ist an der Zeit, sich zu desillusionieren!
Es ist an der Zeit, zu retten, was noch gerettet werden kann - auch die afghanischen Frauen!
Wir werden uns nicht ewig auf die USA verlassen können,
wir sind erwachsen und müssen Entscheidungen treffen können.
Es ist an der Zeit, dass sich Deutschland emanzipiert und Visionen entwickelt!
Es ist an der Zeit, dass wir auf Frankreich zugehen und ein Europa 2.0 gründen.
Europa: eine gemeinsame Verfassung auf Basis der Menschenrechte und Menschenwürde!
Europa: eine gemeinsame Außenpolitik!
Europa: eine gemeinsame, verteidigungsfähige Armee!
Es ist an der Zeit!

Vision bleibt Utopie?

Meine Vision einer besseren Welt ist es, dass alle systemisch unterdrückten Frauen und Mädchen ihr System verlassen und woanders Fuß fassen können. Dann bleiben die Unterdrücker unter sich – und rotten sich auf diese Weise selbst aus.