Die Wahl

Dafür dagegen
Du hast eine Wahl
Freiheit gegeben
täglich gewahr

Mit jeder Wahl ein Muss
ihre Freiheit sichernd
vielen nicht mehr bewusst
leichtfertig entpflichtet

Wahlmöglichkeit hart erstritten
allzu selbstverständlich
einst ohne Wahl gelitten
das Volk vergisst bedenklich

Laut keine Wahl gerufen
Alternativen entfesselt
unterschwellig Hilfe rufend
Wahlfreiheit gefesselt

Du hast eine Wahl
möglicherweise nicht groß
mit Bedacht zur Wahl
gibt Freiheit neuen Sproß

Ökosysteme

Ökosystem – das ist DAS Schlagwort, das heute für jeden mehr oder weniger großen Mikrokosmos der menschlichen Interaktion beschreibt. Besonders beliebt ist der Begriff für Gründerszenen, aber auch in anderen Zusammenhängen taucht er auf.

Interessant wird der Begriff erst, wenn man das eigene Ökosystem einmal verlässt. Nicht nur kurz, sondern für mehr als einen Monat. Kehrt man zurück, bewertet man die Interaktionsmechanismen ganz neu, denn man stellt fest, andere Ökosysteme funktionieren ganz anders. Und funktionieren auch. Erstaunlicherweise.

Als ich zu Beginn der 2000er Jahre nach meinem einjährigen Aufenthalt aus Vietnam zurück kam, stellte ich fest, dass ich mich sehr daran gewöhnt hatte, dass ich keinen Preis für etwas, was ich erwerben wollte, akzeptieren sollte, sondern stattdessen mit dem Anbieter von Angesicht zu Angesicht verhandeln sollte.  Ich stellte bei meiner Rückkehr fest, dass das hierzulande völlig aus der Mode gekommen ist – obwohl die theoretischen Voraussetzungen, eine Lockerung von Preisbindungen , durchaus gegeben und sogar intensiviert worden waren. Theoretisch bestand also die Möglichkeit, im Supermarkt oder im Warenhaus zu verhandeln. Aber wer machte das schon, wer wollte sich die Zeit dafür nehmen?

Ich gewöhnte mich erstaunlich schwer wieder daran. Denn es drängte sich mir das Gefühl auf, dass es nicht mehr darum geht, einen Kunden glücklich zu machen. Mein Gefühl sagte im Gegenteil, dass der Kunde eine Hochleistungskuh ist, die dazu da ist, permanent gemolken zu werden.

Im Anschluss an meine Rückkehr – ich kam im Frühsommer zurück – machten wir eine zweiwöchige Rundreise durch den Schwarzwald, völlig ohne Vorabbuchung. Und auch ohne Zelt, den zelten stellt für mich keinen Urlaub dar, da ich es nicht leiden kann, mir im Urlaub das Frühstück selbst zubereiten und zu den Duschen und Toiletten eine Wanderung einplanen zu müssen.

Wir suchten uns also Hotels oder Pensionen und logierten ein paar Tage hier oder da und zogen dann wieder weiter. Da ich nicht sofort meine vietnamesische Verhandlungshaut abstreifen konnte, verhandelte ich die Hotelzimmerpreise. Ich ging vor wie in Vietnam: Ich fragte an der Rezeption, ob man im Hotel noch ein Zimmer habe, und wenn ja, bat ich darum, es sehen zu dürfen. Das tat ich dann. Im Zimmer ließ ich mir sagen, was es kosten sollte und schlug dann – in aller Regel mit meinem verschmitztesten Lächeln, das ich so drauf hatte – einen günstigeren Preis vor. Beim ersten Versuch sah ich meinem Mann schon an, dass er sich jetzt am liebsten verkriechen und am liebsten zum Ausdruck bringen würde, er gehöre nicht zu mir.

Nicht minder groß war sein Erstaunen, dass das funktionierte! Ein Hoch auf die Schwarzwälder Hotelrezeptionisten, die offensichtlich Entscheidungsbefugnis hatten und auch wahrnahmen!

Im selben Jahr bereitete mir der vorweihnachtliche Umtrieb physische Schmerzen. Ich kam mir nicht mehr nur wie eine Kuh vor, sondern wie Teil einer Masse, die es auszuquetschen galt und nahezu schon ausgequetscht war, wenn es in den Medien darum ging, die Umsätze beim Weihnachtsshopping zu prognostizieren und eventuelle Rückgänge und das Darben der Handelsindustrie zu bejammern. Ich kann mich bis heute noch nicht dafür erwärmen, dem darbenden Handel meine vorweihnachtlichen Einkünfte zu spendieren, sondern unterstütze lieber geeignete Hilfsorganisationen.

Ich kaufe auch heute noch lieber gerne Sachen, die die nächsten 20 Jahre halten – und werde leider immer weniger fündig. Selbst beim Auto wird es schwierig, solide Arbeit zu finden. Belastete Teile wie Zahnräder oder Hülsen, z.B. bei Fensterhebern, werden aus Kunststoff gefertigt, der nach nahezu vorhersehbar wenigen Jahren bricht, ganz gleich, wie teuer das Fahrzeug war. Stoßstangen werden in Fahrzeugfarbe lackiert, was ihnen ihre Funktion nimmt, denn der kleinste Stoß führt zu einem Kratzer, der zum Ersetzen der ganzen Front oder des Hecks führt. Kostenpunkt je nach Fahrzeug zwischen 500 und 2000 Euro.

Und jetzt wieder zurück zum Ökosystem: mit Hilfe der modernen Technologien wird Jagd auf Daten gemacht, die unser Verhalten, unsere Vorlieben offenlegen. Es wird danach getrachtet, uns personalisierte Werbung einzublenden, und – ganz analog – uns in Zeiten von Wahlen nur mit denjenigen Meinungen zu konfrontieren, die wir eh schon haben.

Wenn wir uns auf dieses Spiel kollektiv einlassen, und so sieht es derzeit aus, dann werden wir wirklich zu dieser tumben Masse, die ein paar wenige haben wollen, um sie so richtig, ordentlich ausquetschen zu können. Eine Masse, die verlernt hat, zu hinterfragen. Die verlernt hat, in Frage zu stellen. Die verlernt hat, ihre Meinung zu ändern und dazu zu lernen.

Wir werden dann in Schubladen, Ökosysteme, Mikrokosmen verschoben, so wie es z.B. Marktforschungsinstitute schon viele Jahre machen, und können nie wieder daraus entkommen.

Meinungsbildung wird verknappt und kostbar. In der großen Masse werden Meinungen statisch, ein Lernen findet nicht mehr statt. Meinungen werden zementiert. Auf diese Weise tragen moderne Medien, die sich auch soziale Medien nennen, dazu bei, dass ein soziales Miteinander aus der Mode kommt, Konfrontation geschürt wird, und sich damit Demokratie und ihr wesentlicher Freiheitsbegriff – die demokratische Diskussion – leise verabschieden.

Ich habe früher oft gedacht, es ist schade, wenn ich einst sterben werde, da ich dann die tollen nächsten Entwicklungen und Entdeckungen nicht mehr mitbekommen werde. Heute denke, es ist gar nicht so unwahrscheinlich, dass ich am Ende meiner Tage keine Lust mehr habe, diese Entwicklungen und ihre Auswüchse weiter erleben zu wollen. Vor allem werde ich möglicherweise froh sein, mich nicht mehr als geschundene Hochleistungskuh zu fühlen.

Das einjährige Wechseln in ein anderes Ökosystem hat mir die Angst davor genommen, Dinge anders zu machen, als andere, also die Angst vor Veränderung. Denn eins ist klar: Dinge können auch anders gut funktionieren, vielleicht sogar besser.

Wenn ich mir den aktuellen Wahlkampf betrachte, dann ist eines auch offensichtlich: Für gravierende Veränderung steht keiner der Kandidaten und keine der Parteien, am ehesten für minimal inkrementelle. Selbst wenn sie wollten, erst einmal gewählt, finden Sie ein Ökosystem vor, das von einer ganzen Reihe von Mitspielern dominiert wird, die ein Interesse daran haben, dass keine Veränderung stattfindet. Und so wird im Vorfeld der Wunsch nach Veränderung gar nicht erst geäußert, um den Aufschrei – den Shitstorm – zu vermeiden. Die ultra-rechten oder -linken Flügel sind hiervon am allerwenigsten ausgenommen. Den sie haben sich bereits jetzt als unfassbar meinungszementierend, lernunfähig und Veränderungsängste schürend erwiesen. Die Fähigkeit, neue Lösungen zu entwickeln, die die Interaktion in unseren Ökosystemen verbessern, ist nicht vorhanden.

Verbesserung ist immer auch Veränderung braucht immer auch Demokratie ist immer auch demokratische Diskussion ist immer auch Freiheit.

 

 

Begründungen

Warum fragen Kinder. Zweimal warum. Dreimal warum. Eine Ausdauer haben sie. Oder einfach Spaß dran. Immer wieder warum, ein schier nicht endender Warumwurm. Warum sie Eltern damit zur Weißglut treiben, wissen sie noch nicht. Aber so einfach und locker ihnen das Warum von den Lippen geht, so komplex kann die Antwort sein, soll sie doch kindgerecht sein, und Komplexes in einer Einfachheit darstellen, die Erwachsene nicht selten überfordert.

Wenn ihnen die Erklärung nicht genügt, oder sie sie nicht verstehen, basteln sie sich ihr eigenes Bild. Und vergessen es auch erst einmal wieder, bis eine bessere Antwort auf ein Warum daher kommt, die sich viel einfacher merken lässt, oder den Wissensdurst beflügelt.

Jeder darf sich sein eigenes Weltbild schaffen. Wir gestehen es den Kindern zu. Gestehen wir es auch Erwachsenen zu? Wir erwarten, dass irgendwann das Alter erreicht ist, da die Warums ausgedient haben. Aber ist das gut? Und kommt dieser Moment überhaupt jemals?

Wenn ein Kind aufhört – für den Moment – und den Warumwurm unterbricht, dann ist es entweder abgelenkt, das Thema ist nicht mehr interessant, oder es hat den Faden beim Begreifen der Belegkette verloren, die sich im Antwortschnürlein findet. Kurzum, für den Moment genügt dem Kind ein halbwegs solides Halbwissen.

Geht es nicht einem Erwachsenen gerade genauso, wenn er aus der Warumphase heraustritt? Begnügt er sich dann nicht mit einem halbwahren Bild? Das kann sinnvoll sein, wenn es ans Begreifen von Wahrheiten geht, die schwer zu erfassen sind. Die Quantentheorie. Das Zwillingsparadoxon. Oder weitere Ereignistheorien in Mikro- und Makrokosmen.

Zugegeben, nicht jeder auf dieser Welt studiert Physik. Oder irgendeine andere Naturwissenschaft, die mikro- oder makrokosmischen Wahrheiten auf der Spur ist und immer näher kommt. Ja sogar die wenigsten studieren in dieser Tiefe, die meisten hören auf, bevor sie den heute bekannten Rändern der mikro- und makrokosmischen Wahrheiten je nahe kommen. So auch ich.

Aber ist es nicht in jeder Welt, also auch in allen Welten zwischen Mikro- und Makrokosmen, beunruhigend, wenn ein Mensch das Fragen nach dem Warum einstellt? Überhaupt das Fragen einstellt? Zum Fragen gehört das Hinterfragen. Das Infragestellen. Des eigenen Weltbilds. Das Nachfragen – und möglicherweise das Verstehen von anderen Weltbildern. Das Warum bildet eine Besonderheit, es verlangt nach einem Grund, einem Beleg.

Kann ich mein Weltbild begründen? Habe ich Belege dafür? Warum habe ich mir dieses Weltbild angeeignet? Und nicht ein anderes? Warum ist nicht ein anderes passender?

Warum halte ich Toleranz für das höchste Gut, das ein Mensch besitzen kann? Weil ich nach der Devise lebe „Was Du nicht willst, das man Dir tu‘, das füg auch keinem Andern zu!“ Warum lebe ich nach dieser Devise? Weil alles Andere Schmerzen bereitet. Warum fällt es so vielen Menschen schwer, Toleranz zu leben?  Weil sie aufgehört haben, sich und ihr Weltbild zu hinterfragen, nach Belegen zu fragen, nach dem Warum zu fragen.

Warum haben sie aufgehört? Etwa weil sie erwachsen sind? Wohl kaum. Viel eher ist es ihnen peinlich zuzugeben, dass ihnen das Warum zu komplex ist, dass sie selbst keine Antworten finden. Es ist ja so viel einfacher, sich in die einfachen Antworten von Gurus, Populisten, ja von Religionen zu flüchten. Es ist ja so viel einfacher, sich von anderen Antworten vorgeben zu lassen, und gleichzeitig Toleranz einzufordern von denen, die diesen Antworten keinen Glauben schenken.

Begründen ist schwer. Sich selbst in Frage zu stellen noch viel mehr. Sei uns der Mensch ein Vorbild, der keine Wahrheiten verhökert, sondern sie in Frage stellt mit logischen Argumentationsketten und Begründungen. Gefühle, zumal diffuse, sind hier kein guter Ratgeber. Vielmehr sind es Aktio und Reaktio. Woher kommen diese diffusen, irrationalen Ängste, die heute überall herrschen? Verschwörungstheorien aller Orten, elementare physikalische Prinzipien in Frage stellend. Fremdenängste wo keine Fremden sind.

Warum tun Menschen Menschen Schlimmes an? Warum sind manche von uns grausamer als jedes Raubtier? Es macht mich traurig zuzuschauen. Dass Verstand so brach gelegt wird.