Um mein Abitur herum war ich eingefleischte Pazifistin. Ich hielt es für einen Fehler, wenn sich meine Schulkameraden für den Wehrdienst anstelle des Zivildienstes entschieden. Ich war der festen Überzeugung, dass Militär überflüssig ist – und stetig überflüssig gemacht werden muss – und Diplomatie – Kompromisse finden und eingehen – das einzig Wahre ist, was hilft, was Kriege verhindert und beendet.
Fremdbestimmt
Entscheidend für diese Einstellung war der Blickwinkel des Fremdbestimmten, d.h. ein Staat, repräsentiert durch eine in ungebührlicher Weise an Macht gelangte Einzelperson oder Clique, die ihre Gewaltphantasien – wahlweise egoistisch, selbstverliebt oder durchgeknallt – auslebt, schickt Leute, die das gar nicht wollen, in einen herbei geredeten Konflikt um des Konflikts willen, um der Kriegsmaschinerie willen, ungeachtet des Leids, das sie diesen Leuten und ihren Angehörigen zufügt. Meine Einstellung passte ganz zu Reinhard Meys Lied „Alle Soldaten woll’n nach Haus“, was auch mein Lebensgefühl als Teenager widerspiegelte, der im kalten Krieg aufwuchs.
Tatsächlich ist dieses Lied noch immer richtig. Nichtsdestotrotz beleuchtet es nur einen Blickwinkel einer kriegerischen Auseinandersetzung. Und zwar den eines an sich sinnlosen Krieges, der nur das Ego einzelner bedient und über Leid und Leichen der großen Masse geht. Nicht wenige Eroberungskriege der Menschheit dürften von solchen Elementen dominiert worden sein. Mithin stellt sich auch die Frage nach dem Sinn und Unsinn der Verehrung historischer Figuren als „groß“, die sich vorwiegend über ihre kriegerischen Auseinandersetzungen und ihre Eroberungsfeldzüge definieren.
Heute mehr als in meinen „revolutionären Zeiten“ als Teenager halte ich es für nicht zielführend, solchen Figuren Anerkennung zu zollen. Trotzdem habe ich im Lauf der Jahre gelernt, meine Einstellung zu Krieg zu differenzieren, da mein damaliger Blickwinkel fehlerhaft, nämlich zu pauschal und kategorisch in Bezug auf die Frage, wer wann von wem fremdbestimmt ist, war. Auch erkläre ich heute nicht mehr jeden für dumm, der zur Bundeswehr geht, und ich schaue mit Sorge auf die Aussetzung der Wehrpflicht, die einerseits der Bundeswehr Rückhalt in der breiten Gesellschaft sicherte und andererseits für eine Durchmischung gesellschaftlicher Gruppierungen und politischer Einstellungen innerhalb der Bundeswehr sorgte und so der militärischen Elitenbildung mit Raum für rechtsextreme Strömungen entgegenwirkte. Militärisch-strategisch mag die Aussetzung der Wehrpflicht sinnvoll sein, gesellschaftlich ist sie ein Fehler.
Zeitenwende im Denken
Der offizielle Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine am 24. Februar 2022, dem 107. Geburtstag meiner Oma, hat endgültig alle Pauschalität im Denken auf den Kopf gestellt. Wir, ich, haben fest daran geglaubt, dass Reden, Verhandeln, Verträge, wirtschaftliche Verflechtungen verhindern, dass Krieg zu uns kommt. Es hat lange anscheinend gut funktioniert. Das ein oder andere Unbehagen, dass das diese Vorstellung möglicherweise ein Fehler ist, mag man gespürt haben, wenn man die Entwicklungen rund um den IS-Mob im nahen Osten verfolgt hat, oder vom Abzug westlicher Truppen aus Afghanistan erschüttert wurde, der finsterstes Mittelalter nach Afghanistan und für die afghanischen Frauen zurück brachte: Was wenn die Gegenpartei einfach Gewalt und Krieg vom Zaun bricht und sich nicht verhandlungsbereit zeigt? Ja, gar Verhandlungen als Schwäche interpretiert und gerade dann noch einmal Anlauf nimmt?
Wir, ich, sind von einem unbedingt rationalen Gegenüber ausgegangen. Wir haben erfahren, wie ratlos wir sind, wenn das Gegenüber nicht rational ist bzw. nicht nach unseren Maßstäben rational handelt. Manche mögen Putin und seine Clique noch immer für rational halten. Die Verbreitung von einschlägiger Propaganda und offensichtlichen Lügen (es ist schon schwer auszuhalten, dass ein ukrainischer Präsident mit jüdischen Wurzeln als Nazi herab gewürdigt wird), die sehr eigene Dynamik in dieser Gruppe, all das weist auf einen massiven Realitätsverlust hin und entbehrt in vielerlei Hinsicht einer stringenten Rationalität. Was also tun, wenn das Gegenüber angreift und gar nicht daran denkt, verhandeln zu wollen?
Die offensichtlichste Herangehensweise ist es doch, den Spieß der Fremdbestimmtheit umzukehren und das Gegenüber in eine Lage zu zwingen, die ihm die Sinnhaftigkeit von Verhandlungen nahebringt, ja quasi zu jenem berüchtigten, unablehnbaren Angebot macht. Das Gegenüber muss seinen Fehler erkennen und zugeben. Es stellt sich die Frage nach dem besten, effizientesten Weg dorthin!
Ist es ein Fehler, der Ukraine Waffen zu liefern?
Ja und nein.
Ja, weil wir als Gesellschaft noch kein klares Konzept haben, was genau wir damit erreichen wollen, wie weit wir wirklich gehen wollen. Wir sollten uns nicht einreden, keine Kriegspartei zu sein, denn in gewisser Weise sind wir es, weil wir Partei ergriffen haben. Wir als Gesellschaft müssen uns mit jeder gelieferten Waffe im Klaren sein, dass wir etwas unterstützen – und verteidigen – das für uns in hohem Maße sinnvoll ist. Im Grunde wissen wir, die Ukraine verteidigt für uns die Demokratie, und indirekt als eine Art Vorposten unsere geografischen Grenzen. Ganz konkret auch unsere deutschen Grenzen, die der Aggressor bereits mit markiger Rhetorik ins Auge gefasst hat. Dennoch müssen wir uns klar werden, wie weit wir gehen wollen. Sind wir im Ernstfall bereit, das auch direkt auf unserem Gebiet, vor unserer Haustür zu verteidigen?
Nein, weil wir Zeit gewinnen müssen, um sowohl die Ukraine als auch uns als westliche Demokratien in die Lage zu versetzen, das nicht ablehnbare Angebot machen zu können, zumindest, wenn uns Demokratie, ihre Werte und unsere Grenzen wichtig sind. Das geht in diesem Fall nur militärisch und über Waffen. Damit sind wir als Gesellschaft bereits mittendrin, und es ist höchste Eisenbahn, konzeptionell zu erarbeiten, was unsere gesamtgesellschaftliche Strategie ist. Das sollten wir uns eingestehen, alles Andere ist naiv.
Sind die neuen Friedensbewegungen und ihre Ziele hinsichtlich Stopp der Waffenlieferungen und sofortigen Verhandlungen realistisch?
Ja und nein.
Ja, da es naiv ist zu behaupten, allein die Ukraine entscheide, wann sie verhandeln will. Meine Zeit in Vietnam hat mich gelehrt, dass das Unfug ist. Insofern ist die empathielose Argumentation der neuen Friedensbewegten, dass man über die Ukraine (hinweg) mit dem Aggressor verhandeln und damit seinen Interessen mindestens teilweise zustimmen solle, nicht ganz unrealistisch. Kaum vergleichbar in der Sache, aber auch über Vietnam haben vorrangig die Stellvertreter verhandelt.
Nein, weil der Aggressor eine Strategie der Machtdemonstration verfolgt und Verhandlungen als Schwäche interpretiert, sie für ihn also nur dann akzeptabel sind, wenn sie seine Interessen in Gänze bedienen. Die Waffenlieferungen dienen der Umkehrung dieser Betrachtungsweise. Gerne wird von den neuen Friedensbewegten der erste Weltkrieg mit seinem sinnlosen Stellungskampf an der Westfront als Parallele heran gezogen. Jedoch hinkt dieser Vergleich, da er nur einen Teil des Konflikts beschreibt. Der andere Teil lässt sich durch offensichtliche Parallelen mit dem zweiten Weltkrieg abbilden, wo ebenfalls ein Aggressor – zunächst erfolgreich – Nachbarländer überfallen hat, und erst nach sechs (!) Jahren Krieg durch eine Gruppe von Willigen, den Alliierten, zur Einsicht der Sinnlosigkeit seines Handelns gebracht werden konnte.
Ironie der Geschichte: Auch Russland – und gerade die Ukrainer – als Teil der Sowjetunion gehörte zu diesen Willigen. Übrigens, das sollte nicht unerwähnt bleiben, hat sich die Führungsclique Nazi-Deutschlands dem Erleben der Folgen ihres Tuns weitgehend durch Suizid entzogen. Welche Parallele ist nun näher an der heutigen Realität?
Im Hintergrund
Ich persönlich gehe davon aus, dass viele Diplomaten im Hintergrund damit beschäftigt sind, den Hebel zu suchen, der Verhandlungen in diesem Krieg ermöglicht. Die vereinzelten Anrufe eines Präsidenten Macron im Kreml belegen dies. Chapeau hierfür! Schließlich holt sich Monsieur Macron regelmäßig ein Füllhorn irritierender Aussagen ab. Bis es also soweit ist, dass Verhandlungen insbesondere von Seiten des Kreml wirklich ernsthaft geführt werden, haben wir kaum eine andere Wahl – konträr zu den Forderungen der neuen Friedensbewegten – als Zeit zu gewinnen, indem wir Widerstand leisten und auch Waffen liefern, um für die Demokratie, ihre Werte und unsere geografischen Grenzen einzustehen.
Ich habe mich bereits dabei ertappt, Russland dafür zu danken, der Nato wieder Ziel und Orientierung gegeben zu haben. Und zugleich auch der EU vorgeführt zu haben, dass es ein sträflicher Fehler ist, einer zumindest halbwegs geeinten Außen- und Verteidigungspolitik, die auch unabhängig von den USA agieren kann, bisher keine höhere Priorität eingeräumt zu haben.
Friedensbewegung oder Befriedungsbewegung – das ist die Frage!
Die Forderungen der neuen Friedensbewegten halte ich in ihrer Pauschalität zum jetzigen Zeitpunkt für unrealistisch und naiv. Sie werden nicht zu Frieden, sondern zu Befriedung zunächst der Ukraine führen. Es möge sich an den Latein-Unterricht erinnern, wer wissen will, was Befriedung heißt: Auch die Pax Romana war kein Friede, sondern die Befriedung – ergo Unterwerfung und Beherrschung – eroberter Gebiete und Völker. Ein Pseudo-Friede, der uns möglicherweise eine Zeitlang in trügerischer Sicherheit wiegt, wer weiß wie lange. Die Frage, wie wir uns hinsichtlich Verteidigung in Zukunft aufstellen, und was wir tun, wenn einestages auch unsere Grenzen derartig verletzt werden, ist damit noch keineswegs vom Tisch.
Nein, ich halte die Befriedung der Ukraine für keinen nachhaltigen Ausweg, und die Lieferung von Waffen zum jetzigen Zeitpunkt und bis auf Weiteres – bis zu einem erkennbaren Einlenken des Aggressors, sei es durch die derzeitig Führung oder eine nachfolgende – für keinen Fehler, sondern für geboten.
Und doch – es kann natürlich schief gehen. Eines ist aber auch klar: Wir sind bereits Teil der westlich-demokratischen Alliierten der Ukraine – und die Vorgehensweise, selbst wenn uns noch Eskalationen bevor stehen, ist kein Fehler, solange diese Allianzen unverbrüchlich stehen!